Um es gleich vorwegzunehmen: Was „schön“ ist, bestimmen eine Mischung aus Zeitgeist, kulturellem Umfeld und persönlichem Geschmacksempfinden. Eine allgemein gültige Antwort wird auf diese Frage kaum zu finden sein, die Ausnahme mag vielleicht „der goldene Schnitt“ sein, der in Malerei, Fotografie und darstellenden Kunst für „schöne“, ausgewogene Aufteilungen und Kompositionen sorgt. Zu erklären ist dieses „absolut Schöne“ womöglich mit der aus der Natur entnommenen Fibonacci-Folge, einer Zahlenreihe, die für Pflanzenstrukturen bis zu Bewegungsabfolgen verantwortlich ist und für Ausgewogenheit und Ästhetik sorgt, die jeden Menschen gleichermaßen ansprechen.
Funktionalismus, wie er der Fibonacci-Folge innewohnt, führt in der Architektur seit jeher zu Polarisierungen. Was als „form follows function“ in Produkt- und Möbel-Design noch „durchging“, sorgte und sorgt in der Architektur stets für Diskussion – und sogar blaublütigen Ärger: 1911 stellte Alfred Loos, ein Architekt, der alles bis ins Kleinste den Bedürfnissen der Menschen unterordnete, am Michaelerplatz, gegenüber der Wiener Hofburg, das Modehaus Goldman & Salatsch fertig, das auf jegliche Schnörkel auch an der Außenfassade verzichtete. Dieses „form follows function“ in der Ausprägung fehlender Ornamentik an den Fenstern („Augenbrauen“), erzürnte Kaiser Franz Joseph I. derart, dass er es nicht nur ablehnte, die Balkone seiner Hofburg zu betreten, er ließ der Legende nach sogar einige Fenster vernageln, um den Anblick nicht ertragen zu müssen. Heute wird das „Loos Haus“ übrigens als Jugendstil-Juwel gefeiert.
„Form follows funktion“ – dieser viel verwendete Ausdruck geht zurück auf den amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough. 1852 verwendet er ihn in Zusammenhang mit den organischen Prinzipien der Architektur. Louis Sullivan, einer der ersten großen Hochhausarchitekten, übernimmt diesen Begriff in die Bauwelt und formuliert damit das zugrundeliegende Gesetz, „dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.“
Die Kunstschule „Staatliches Bauhaus“, 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründet und allgemein unter „Bauhaus“ bekannt, interpretierte später, anders als Sullivan, den Gestaltungsgrundsatz „form follows function“ noch radikaler und als „Verzicht auf jegliches Ornament“.
Der Reduktion auf Funktion wohnt aber nicht nur eine bestimmte Ästhetik inne, sie gibt auch die Möglichkeiten, Formen neu zu kombinieren. Hier findet eine aufsehenerregende Entwicklung der postmodernen Architektur, der Dekonstruktivismus, seinen Nährboden. Abgeleitet vom Lebensgefühl der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wird der gewohnte, konstruktive Architekturentwurf zerstückelt, fragmentiert und neu zusammengesetzt. Die Gesetze von Schwerkraft und Sinnhaftigkeit scheinen aufgelöst, die Baukörper zeichnen sich aus durch disharmonischen Material- und Farbmix, absichtliche Brüche, ungewohnte Perspektiven.
Die Gebäude des architektonischen Dekonstruktivismus sind anders, ihre Ästhetik und optische Erscheinungsformen ungewohnt, ihre Funktionalität aber stets innewohnend. Als Vertreter dieser Stilrichtung gelten u.a. Daniel Liebeskind, Frank O. Gehry, Wolf D. Prix (Coop Himmelblau) und Zaha Hadid. Sie und Architekturkritiker bezeichnen dekonstruktive Architektur als fließend, kinetisch oder parametrisch, mit einer Eleganz von geordneter Komplexität. „Der Eindruck ist der einer nahtlosen Fluidität, was auch natürlichen Systemen entspreche,“ führt Patrick Schuhmacher, einstiger Geschäftspartner der mittlerweile verstorbenen, viel gefeierten Architektin, weiter aus.
Was auf den ersten Blick ungewohnt sein mag, lohnt dennoch einer vertiefenden Auseinandersetzung. Was damals das „Loos Haus“ war, ist heute vielleicht ein ARGOS Apartment Komplex in der Grazer City (https:/