Wir leben in aufregenden Zeiten. Vieles befindet sich im Umbruch, beschleunigt und zum Teil auf den Kopf gestellt durch die Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Gestaltung des Alltags zwischen Arbeiten, Wohnen, Leben. Die Änderungen der Lebensgewohnheiten implizieren neue Ansprüche an das Wohn- und Lebensumfeld des Einzelnen und somit eine zum Teil gänzlich neue Herangehensweise an Städtebau und Infrastruktur.
Diese drei Themen wären jedes für sich schon ein stark bestimmender Moment für die Stadtplanung. Ein völlig neues Gewicht bekommt dieses Trio nun zusätzlich mit dem immer stärker in den Fokus rückenden Thema „Home Office“, und, als weitere Folge der diversen Lockdowns und Pandemie-bedingten Einschränkungen, dem wachsenden Online-Handel – 50%, so aktuelle Prognosen, werden in der Zukunft über das Internet abgewickelt. Und über allem liegt der Mega-Trend „nachhaltige Lebensweise“.
Allein der Klimawandel als gesamtgesellschaftliches Problem kann nicht durch Einzellösungen oder ausschließlich individuelle Herangehensweisen angegangen oder gar gelöst werden. Was im internationalen politisch-wirtschaftlichen Sektor von Nöten ist – ein Schulterschluss zwischen den verantwortlichen Nationen –, gilt im Kleineren auch für eine Stadt, ihre Bauvorhaben, Vorschriften, Möglichkeiten, Widmungspläne. In Graz kämpft man gegen Feinstaubbelastung, aber auch mit den Problemen des Handels, sich in attraktiven Innenstadtlagen behaupten und finanziell überhaupt noch überleben zu können.
Alles Dinge, die nicht durch einen einzelnen Projektentwickler gelöst werden können, der Platz für mehr und mehr Bewohner schaffen soll und will, und sich gleichzeitig mit zahlreichen Auflagen und durchaus auch Gegenwind aus dem Marktumfeld konfrontiert sieht.
Graz bringt immenses Potenzial mit, den genannten Herausforderungen zu begegnen und Lösungskonzepte zu entwickeln, die richtungsweisend für den Städtebau der Zukunft sind. Um solche Konzepte fundiert planen und umsetzen zu können, müssen alle für städtebaulich relevante Belange Verantwortlichen an einem Strang ziehen. In Graz, als eine nicht nur bei Expats sehr beliebte Stadt – Lebensqualität allgemein und Freundlichkeit der Grazer*innen stechen in vielen Umfragen immer wieder besonders hervor –, muss man sich die Frage stellen: was können und wollen wir bis 2050 erreichen und bieten? Ganz wesentlich für weitere Entwicklungsüberlegungen wäre eine wissenschaftliche Basis; um eine solche zu generieren, könnte man das in Graz vorhandene wissenschaftliche Knowhow in Form der Universitäten und Fachhochschulen einbinden. Man bekäme valide Daten zu CO2-Emissionen, Ansätze zu Nutzungskonzepten erneuerbarer Energien, zu Mobilität etc. Aus einer solchen wissenschaftlich fundierten Herangehensweise käme man gemeinsam zu weiteren Maßnahmen. Wichtig ist natürlich hierbei das „Gemeinsam“: Partikular-Interessen, politische Ambitionen und geschmäcklerische Diskussionen müssen bei einer solchen langfristig angelegten, umfassenden und nachhaltigen Stadtplanung zu Hause bleiben.
Vorausgesetzt man schafft es, auf Eitelkeiten zu verzichten und gemeinsam am „Graz der Zukunft“ zu bauen, öffnen sich faszinierende Perspektiven. Im Rahmen des Diskussionsformats „Talk am Ring“ zu „Findet Zukunft Stadt?“ äußerte Thomas Pucher, seines Zeichens international renommierter Architekt mit Sitz in Graz, die Idee, aus der Grazer Innenstadt eine Art Lebensqualitätscluster zu machen: „Die Stadt Graz als Zentrum der Steiermark – mit einem Geschäft oder einer Werkstatt aus jeder Ecke des Landes, vielleicht noch kombiniert mit einem ökologischen Ansatz.“ Dies impliziere auch andere Möglichkeiten, Innenstädte weiter zu beleben. „Warum versucht man zum Beispiel nicht, das ganze Thema Pflege, Betreuung Älterer usw. vermehrt in die Stadt zu holen, statt Seniorenresidenzen im Grünen zu bauen? Menschen, die nicht mehr so mobil sind, tun sich in der Stadt oftmals leichter“, ergänzte Helmut Konrad, Gründer und Geschäftsführer der K1 Group, ebenfalls in dieser Talkrunde.
Die Zukunft wird der Einbeziehung des Umlands, der Natur, der Vielfalt gehören. Ein City-Nutzungsmix für Bewohner*innen, der weit über „Handel & Wohnen“ hinausgeht und Mobilität miteinbezieht – auf wissenschaftlich untermauerten soliden ökologischen wie ökonomischen Füßen stehend.
Graz ist nicht die einzige Stadt, die sich den großen Themen stellen muss. In Wien beginnt man beispielsweise, gemischte Marktflächen zu forcieren, also eine Symbiose zu schaffen zwischen Gewerbe und Wohnen. Die Wiederbelebung der Pracht-Einkaufs- und mittlerweile Lebensstraße Kurfürstendamm in Berlin wäre als gelungenes Beispiel für minimalen (partei)politischen Einfluss und maximale, gut orchestrierte privat-wirtschaftliche Initiative sicher eine Benchmark für hiesige Vorgehensweisen.
Gernot Katzenberger, Geschäftsführer der WEGRAZ, weiß aus Erfahrung, dass der Weg des gemeinsamen Planens und Umsetzens in der Stadtentwicklung kein einfacher sein wird. „Es wird sicher ein Kraftakt mit viel Überzeugungsarbeit und einem langen Atem.“
Das Ergebnis wird es wert gewesen sein.